Gemeinsamer Antrag zum Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan

(Gemeinsamer Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE, SPD und MitBürger & Die PARTEI)

Beschlussvorschlag:

  1. Der Stadtrat der Stadt Halle fordert die Stadtverwaltung auf, bei ausreisepflichtigen abgelehnten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aus Afghanistan im Rahmen sorgfältiger Einzelfallprüfungen die aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten für eine Bleiberechtsperspektive zu prüfen. Das geltende Aufenthaltsrecht bietet die Möglichkeit eines humanitären Aufenthalts oder der verlängerten Duldung.
  2. Der Stadtrat appelliert an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, für afghanische Geflüchtete einen dreimonatigen bundeslandbezogenen Abschiebungsstopp nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu erlassen und beim Bund die Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan zu erwirken. Dieser Abschiebestopp hat sich auf solche Länder der Dublin-III-VO zu erstrecken, von denen aus von einer weiteren Abschiebung nach Afghanistan ausgegangen werden kann.
  3. Der Stadtrat appelliert an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, sich auf allen politischen Ebenen dafür einzusetzen, dass das BAMF alle negativ beschiedenen Asylanträge von afghanischen Geflüchteten der letzten Jahre überprüft. Dabei muss die veränderte Sicherheitslage in Afghanistan berücksichtigt werden.
  4. Der Stadtrat appelliert an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, sich auf Bundesebene für die Aussetzung des zwischen der EU und Afghanistan ausgehandelten Rückübernahmeabkommens vom 2. Oktober 2016 einzusetzen.
  5. Der Oberbürgermeister wird gebeten, im Namen der Stadt Halle die ablehnende Haltung des Stadtrates zu Abschiebungen nach Afghanistan gegenüber Mandatsträgern auf Bundes- und Landesebene (Sachsen-Anhalt) zum Ausdruck zu bringen.
  6. Der Stadtrat der Stadt Halle bittet den Oberbürgermeister, sich in den Gremien des Deutschen Städtetages dafür einzusetzen, dass dieser seinen Einfluss auf Bundes- und Landesebene dazu nutzt, Abschiebungen nach Afghanistan zu verhindern, damit auch bereits negativ beschiedene afghanische Asylbewerberinnen und Asylbewerber einstweilen von Abschiebungen verschont werden.

gez. Eric Eigendorf
Vorsitzender SPD-Fraktion

gez. Tom Wolter
Vorsitzender Fraktion MitBürger & Die PARTEI

gez. Dr. Bodo Meerheim
Vorsitzender Fraktion DIE LINKE

gez. Dr. Inés Brock
gez. Melanie Ranft
Vorsitzende Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Begründung:

Im Jahr 2019 gab es in Afghanistan 3.403 getötete zivile Opfer in Folge von Kampfhandlungen. Dabei waren gewaltsame Anschläge über das Gebiet des gesamten Landes verteilt, auch in der als “sicher” geltenden Region Kabul. Darüber hinaus finden ständig Menschenrechtsverletzungen seitens regierungsfeindlicher Kräfte sowie staatlicher Akteuren statt.

Aufgrund der prekären Sicherheitslage – vor allem für die Zivilbevölkerung – wurde einer Verlängerung des Auslandseinsatzes der Bundeswehr bereits bis Januar 2022 vom Kabinett zugestimmt. Jedoch beschlossen die USA einen vollständigen Truppenabzug bis zum 11. September 2021, woraufhin auch die NATO bekannt gab, ab dem 1. Mai 2021 mit dem Truppenabzug zu beginnen. Verschiedene Expert*innen warnen bereits vor einer stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage vor Ort. Eine Aufrüstung alter afghanischer Warlords ist bereits zu beobachten und ein Friedensabkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban scheint immer ferner. Auch der US-amerikanische Geheimdienst erwartet ein Wiedererstarken der Taliban, infolge des Truppenabzugs der NATO-Kräfte. Gerade diese aktuellen Entwicklungen zeigen, dass ein sicheres Leben in Afghanistan nicht möglich ist und innerstaatliche Schutzalternativen fehlen, sodass Abschiebungen dorthin keine Option sein dürfen.

Im Global Peace Index belegte Afghanistan im Jahr 2020 den letzten Platz. Der bereits knapp vier Jahrzehnte währende Konflikt dauert dort unvermindert an. In den ersten neun Monaten des Jahres 2020 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 5.939 zivile Opfer, darunter 2.117 Tote und 3.822 Verwundete. Vor dem Hintergrund der Friedensgespräche haben sich die Kämpfe zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in den letzten Monaten verschärft und Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Auch Kabul kann aufgrund der nach wie vor prekären Sicherheitslage keineswegs als „interne Schutzalternative“ für Rückkehrende, die besonders gefährdet sind, nach ihrer Rückkehr Opfer von Gewalt zu werden, bewertet werden. Der tödliche Angriff auf Studierende der Universität von Kabul durch den Islamischen Staat Anfang November 2020 ist nur einer von zahlreichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung in der Hauptstadt in diesem Monat, die dies abermals veranschaulichen. Seit dem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017 konnte deren Betrieb bisher nicht wiederaufgenommen werden. Offensichtlich kann die Sicherheit der Mitarbeitenden vor Ort nicht gewährleistet werden. Wenn die Sicherheit für die Mitarbeitenden nicht gewährleistet werden kann, wie kann dann die Sicherheit der Zivilbevölkerung gewährleistet werden?

Weiterhin müssen Betroffene zur Einreise nach Deutschland (z. B. zum Zwecke der Familienzusammenführung) ein Visum bei der deutschen Botschaft in Islamabad oder Neu-Delhi beantragen. Hierdurch wird das Menschenrecht von Asylsuchenden auf Schutz des Familienlebens wesentlich erschwert. Zusätzlich zur schlechten Sicherheitslage ist, durch die Corona Pandemie verstärkt, die humanitäre Lage ebenfalls verheerend. Vier von zehn Afghanen leiden an Nahrungsmangel. Außerdem ist das Gesundheitssystem mit der pandemischen Lage überfordert.

Vorlagennummer / Link zum Ratsinformationssystem: 

VII/2021/02738
(dort sind auch Verwaltungsstandpunkte, Abstimmungsergebnisse und Beantwortungen zu finden)

Das könnte dich auch interessieren …